„Der Handel ist Wandel!“. Jeder im Handel schaffende hat diese Parole zur Genüge vernommen.
Oft als gut gemeinte Motivation von aktionistischen Entscheidungsträgern gemeint, kurz vor Deadline heißt es „Weitermachen, wir schaffen das! Wir ändern das beim nächsten Mal!“. Prozess- und systemorientiertes Denken stört in dieser Welt, weil es Strategie, Planung und Disziplin erfordert.
Was im tradierten stationären Handel oder bei Katalogversendern noch halbwegs funktionierte, hat im Zeitalter von „Connected Commerce“, „Realtime“, „Social Media“, digitaler Transformation und extrem agilen Handelskonzepten wie den „Verticals“ längst ausgedient. Das kann man überall nachlesen und wird auf Kongressen über Gebühr indoktriniert.
Aber, wann wird es umfassend Wirkung zeigen? Wann handeln die Akteure?
Lange schon wird beispielsweise über die Zukunft des klassischen stationären Handels diskutiert. Neue Flagship-Konzepte werden erdacht, E-, Everywhere- oder Noline-Commerce als Allheilmittel gesehen. Doch häufiger als gedacht sind die Mittel und Methoden zur Umsetzung der strategischen Initiativen eher vergleichbar mit denen aus dem Jahr 1928 – das Jahr, in dem die Lochkarte den Durchbruch zum (damals) richtungsweisenden Speichermedium schaffte.
Die Lochkarte blieb bis in die 80er Jahre hinein das Symbol der Datenverarbeitung, bis sie von magnetischen und optischen Datenträgern abgelöst wurde. Noch 1975 preist IBM die Vorteile der Lochkarte an: “Sie ist zunächst einmal kostengünstig, … mechanisch mischbar, außerdem sowohl maschinell als auch visuell lesbar. Vor allem aber bietet sie ein Signal-Störverhältnis mit dem überragenden Wert …, denn die eingestanzten Löcher sind natürlich deutlich zu erkennen.“
Eine Menge! Zwar wächst die Zahl der transformierten Händler, aber viele Unternehmen sind im Hinblick auf ihre IT-Landschaft und Ihrer Geschäftsprozesse im Lochkarten-Zeitalter stecken geblieben. Die klassischen Geschäftsmodelle erforderten nur einen Bruchteil der heute für den erfolgreichen Verkauf notwendigen Daten. Warenwirtschafts-, Lagerverwaltungs- und Produkt-Design-Software waren mehr als ausreichend, eine Vernetzung der Systeme nicht geschäftskritisch – „Modell Lochkarte“… Der Glaube an eine nachhaltige Verbesserung der Datenverarbeitung ohne Lochkarte war sicherlich aus aktueller Perspektive einleuchtend und schnell vollzogen. Zu offensichtlich waren die Geschwindigkeitsvorteile und das effiziente Handling „großer“ Datenmengen.
Fast alle Unternehmen verfügen doch über „mehr als genug“ Systeme und Server. Sind vorhandene technische Lösungen und Hilfsmittel wie Excel denn etwa nicht ausreichend? Grundsätzlich finden sich immer Argumente für eine Weiterführung vorhandener Prozesse und Systeme, denn:
Aber ist es wirklich so? Während Kapazitäten für die manuelle Bearbeitung neuer Anforderungen aufgebaut werden, werden überfällige Investitionen häufig (zu) kritisch hinterfragt und Zeit verschenkt.
Denn das Einkaufsverhalten hat sich dramatisch verändert. Es gilt bspw. die Lücke zwischen Distanzhandel und Haptik am POS zu füllen. Ein Produkt im Handel lässt sich anfassen und fühlen. Eine digitale, distanzierte Produktpräsentation muss dieses Defizit kompensieren. Dies ist ein Teil der großen Herausforderung, hindert aber den stationären Handel nicht daran, die Lücke zum Omnichannel durch smarte E-Shops zu schließen und den Distanzhandel zu attackieren.
So klein das Delta von stationären Stammdaten zu E-Commerce-Daten auf dem Papier sein mag, so groß ist die Herausforderung an Prozesse, Datenqualitäten und Systeme. Mit großem Aufwand werden Organisationen und Infrastruktur in die neuen Anforderungen gepresst, ERP, LVS und Webshops zu Produktdaten-Halden umgebaut. Ein häufig steiniger Weg.
Das Verständnis für Produkt-Informations-Management (PIM) ist im letzten Jahrzehnt enorm gewachsen, PIM ist auf dem Weg zu einer „commodity“ Software. Einfach zu finden bei einer Vielzahl von Anbietern. Es lohnt sich aber, genau hinzuschauen, denn die Facetten und Spezialisierungen sind nicht offensichtlich erkennbar, die Entscheidung für die eine oder andere Lösung wird zu oft nach Geldbeutel und der bloßen Anzahl der Features getroffen.
Von vermeintlichen Experten vertretene Postulate wie „bestes PIM“ sind Nonsens, denn wir erleben es häufig, dass das „am besten passende PIM“ durchaus auch einmal eine Open-Source-Lösung sein kann.
Zu komplex ist die Domäne Produkt, zu viele Facetten und Stolpersteine treten bei der Implementierung auf, nur zu häufig wird Software anhand seiner Funktionen ausgewählt. Ist doch aber die Passung zum zukünftigen Prozess noch viel wichtiger, als ein Maximum an Funktionen zu bevorraten, die später gar nicht eingesetzt werden!
Die Prozess-Landkarten, sofern diese dokumentiert sind, ermöglichen effizientes Design von Produkten, pünktliche Bereitstellung zur Saison oder dem Verkaufsstart – hier liegen die Stärken. Dem beinahe „saisonfreien Internetvertrieb“ tragen diese Prozesse jedoch nur zu häufig keine Rechnung. So wird E-Commerce als Filiale oder Parallelwelt betrachtet und nur selten mit erforderlichen Prozessveränderungen begrüßt.
Die Digitalisierung von Prozessen wird zwar als notwendig erachtet, nur zu oft aber der Sprung zu kurz angesetzt. Trefflich erreichte mich kürzlich ein Blog-Post:
Doch selbst wer das vorher geschriebene beherzigt, Systeme und Prozesse mit Bedacht und geeigneter Unterstützung verändert und somit im PIM-Zeitalter angekommen ist, steht perspektivisch neuen Herausforderungen gegenüber.
Die gute Nachricht: Ein großer Teil des Weges wurde nun beschritten, die solide Basis geschaffen. Doch es geht weiter: Produktdaten allein sind lediglich die Mindestanforderung in der neuen Handelswelt!
Während ein großer Teil des Handels noch mit den Produktdaten, nebst deren effizienter Verarbeitung und Beschaffung kämpft, beginnen die Innovationsführer mit der Verknüpfung von Kundendaten, Produkten und Stores, um die Zukunft des Einkaufserlebnisses neu zu definieren.
Oft fälschlicherweise in einen Topf mit Big Data geworfen, bündelt diese neue Sichtweise Informationen aus einer Vielzahl von internen Systemen, um ein gesamtheitliches Bild zu erzeugen. Von PIM über ERP und BI bis CRM – hier werden alle relevanten Daten verknüpft, nutz- und auswertbar gemacht. Ein Traum der nicht zu früh geträumt werden sollte, zu groß die Gefahr sich im Daten-Dschungel zu verirren. Doch aussitzen hilft nicht, sonst wird die eigene Marke von den Schlingpflanzen des Wettbewerbs überwuchert, beginnen Sie also jetzt mit der Realisierung!
Zum Download des Artikles: Transformation des Handels Kersten Wirth